Landkreis Gießen. Ein gekipptes Fenster und ein Abluftventilator, der verbrauchte Raumluft nach außen befördert und gleichzeitig für frischen Sauerstoff im Klassenzimmer sorgt – das Prinzip des von der Technischen Hochschule Mittelhessen (THM) weiterentwickelten Abluftventilatorensystems ist ebenso simpel wie effektiv. Das bestätigt ein Pilotprojekt, das die THM in Kooperation mit dem Landkreis Gießen durchgeführt hat und nun überzeugende Ergebnisse liefert.
Sieben Klassenräume wurden seit Herbst 2021mit dem Abluftventilatorensystem ausgestattet und dem Praxistest unterzogen. Dabei stellte sich heraus, dass der Einsatz der Abluftventilatoren eine effektive Maßnahme ist, um eine gute Belüftung der Klassenräume sicherzustellen. Gleichzeitig bestätigen die Messergebnisse, dass es trotz eines kompletten Luftaustausches im Raum zu keinem nennenswerten Temperaturabfall kommt und die einströmende frische Außenluft auch in Fensternähe nicht zu Unbehaglichkeit führt.
Zertifizierung durch den TÜV abgeschlossen
Das Abluftventilatorensystem hat sich aus Sicht von Bau- und Schuldezernent Christopher Lipp im Praxistest bewährt: „Das System ermöglicht effektives Stoßlüften innerhalb weniger Minuten mit nur einem gekippten Fenster. Neben potentiell virenbelasteten Aerosolen wird auch die mit Kohlendioxid angereicherte Raumluft aus dem Klassenraum entfernt und durch frische Außenluft ersetzt, sodass eine deutliche Verbesserung der Luftqualität erreicht werden kann. Das System ist effektiv, zeichnet sich durch ein niedriges Betriebsgeräusch aus und hat lediglich geringe Folgekosten.“
Das in den Schulen im Landkreis Gießen eingesetzte Abluftventilatorensystem arbeitet mit einem CO₂-Sensor, der die Luftqualität im Klassenraum permanent überwacht und beim Überschreiten eines vorher eingestellten Grenzwertes automatisch ein Fenster ankippt und den Abluftventilator startet. Inzwischen wurden die Technik und der Ausstattungsumfang an den bereits zu Testzwecken installierten Anlagen verfeinert. Die Betriebsgeräusche konnten weiter verringert werden, eine zusätzlich eingebaute Lichtschranke soll Verletzungsgefahren beim automatischen Schließen der Fenster vermeiden und ein Rauchmelder im Brandfall für eine gezielte Entrauchung sorgen.
Genau dieser Aufbau kann künftig im Schulbereich verbaut werden, denn die entsprechende Zertifizierung durch einen TÜV-Sachverständigen ist bereits erfolgreich abgeschlossen. Dem Einsatz in den Schulen des Landkreises Gießen steht also nichts mehr im Wege.
Für Prof. Dr. Hans-Martin Seipp, der das Abluftventilatorensystem gemeinsam mit seinem Kollegen Prof. Dr. Thomas Steffens und dem Team vom Fachbereich Life Science Engineering der THM weiterentwickelt und das Pilotprojekt des Landkreises eng begleitet hat, steht fest, dass der Probebetrieb ein voller Erfolg ist: „Die Ergebnisse bestätigen die positiven Erfahrungen, die bereits an vielen Schulen im Werra-Meißner-Kreis und im Münsterland mit dieser Lüftungstechnik gesammelt wurden. Wir sind überzeugt, dass unser Konzept auch außerhalb der Pandemie einen Beitrag für konzentriertes Lernen in einer gesünderen Atmosphäre leistet“, sagt Seipp.
Die Installation soll noch vor den Sommerferien beginnen
Das Abluftventilatorensystem soll nun an 23 Schulstandorten in insgesamt 94 Klassen-, Betreuungs- und Fachräumen eingebaut werden. Die Arbeiten sind bereits ausgeschrieben und werden voraussichtlich noch vor den Sommerferien an den Grundschulen beginnen.
Insgesamt wendet der Landkreis für die Installation der Abluftventilatorensysteme rund 618.000 Euro auf, die geschätzten Kosten pro Klassenraum liegen zwischen 5.000 und 6.500 Euro. Doch die Abluftventilatoren sind nur ein Baustein der Maßnahmen, die der Landkreis zur Verbesserung der Belüftungssituation an den Schulen ergreift. Für 2022 sind darüber hinaus Investitionen in Höhe von insgesamt rund 3,6 Millionen Euro für die Neuinstallation von Lüftungsanlagen an weiteren 15 Schulen vorgesehen. Dafür wurden Fördergelder des Bundes in Höhe von rund 2,7 Millionen Euro beantragt, wobei bereits Förderzusagen über rund 1,95 Mio. Euro vorliegen.
Zum Hintergrund
Grundsätzlich ist die Belüftungssituation in den meisten Klassenräumen an den Schulen im Landkreis Gießen gut, ein Luftaustausch kann also durch regelmäßiges Stoß- und Querlüften über die Fenster sichergestellt werden oder die Räume sind bereits mit einer raumlufttechnischen Anlage ausgestattet.
Anhand umfangreicher Auswertung der Gebäudedaten und Begehungen in den Schulen wurden in den letzten Monaten durch die Mitarbeiter:innen der Bauunterhaltung sowie des Fachdienstes Bauen des Landkreises die Belüftungssituation in den Klassen-, Betreuungs- und Fachräumen erfasst und Verbesserungspotentiale identifiziert. Der Einsatz von Abluftventilatoren zum effizienten Stoßlüften von Klassenräumen ist dabei nur ein Baustein der Maßnahmen zur Verbesserung der Belüftungssituation an den Schulen im Landkreis Gießen.
Nach der Erfassung und Kategorisierung der Räumlichkeiten in den Schulen anhand der durch das Umweltbundesamt entwickelten drei Kategorien zur Beurteilung der Belüftungssituation lag zunächst ein Schwerpunkt auf der Verbesserung der Belüftungssituation in allen Klassenräumen der Kategorie 2, also Klassenräume, die lediglich eingeschränkt zu belüften sind. Mittlerweile konnten alle Klassenräume dieser Kategorie mit Lüftungsanlagen, dem Abluftventilatorensystem oder mobilen Luftreinigungsgeräten ausgestattet werden.
Anschließend wurden diejenigen Räumlichkeiten an Schulen in den Blick genommen, die zwar regulär über Fensterlüftung belüftet werden können, bei denen jedoch der Einsatz technischer Hilfsmittel eine signifikante Verbesserung der Belüftungssituation herbeiführen kann (z.B. Räume mit unzureichender Querlüftungsmöglichkeit oder Räume, die Fenster an einer viel befahrenen Straße haben).
Klassenräume der Kategorie 3 (nicht zu belüftende Räume), die dem dauerhaften Aufenthalt von Schüler:innen dienen, gibt es im Landkreis Gießen nicht.
Physikalischer Hintergrund
Überall dort, wo künftig Abluftventilatoren eingesetzt werden, wird über ein gekipptes Fenster kalte Außenluft in einen Raum gesaugt. Das gekippte Fenster wirkt dabei wie eine Rampe, die die Luft über die Köpfe der Menschen im Raum hinweg an die Decke und dann zur gegenüberliegenden Wand lenkt. Bevor sie zu Boden fallen kann, vermischt sie sich mit der warmen Raumluft und nimmt Wärme von Decke und Wänden auf.
Ein Ventilator in dem am weitesten entfernten Fenster erzeugt eine kolbenähnliche Strömung durch den Raum. Diese sorgt dafür, dass während zwei der drei Betriebsminuten ausschließlich verbrauchte und potenziell belastete Raumluft durch die Ventilatoröffnung hinausbefördert wird. Bei einmaliger Lüftung zur Hälfte einer Schulstunde können so 50 bis 70 Prozent des Luftvolumens ausgetauscht werden. In der Pause erfolgt dann eine weitere Lüftung.