Die Corona-Krise könnte die Welt verändern. Und sie
dürfte auch den Sport verändern. Wie diese Veränderungen ausfallen könnten und wie sich die derzeitige Lage in der LIQUI MOLY Handball-Bundesliga darstellt,
hat die Wetzlarer Neue Zeitung den Geschäftsführer der HSG Wetzlar, Björn Seipp, gefragt. Dieser erklärt in dem Interview mit Redakteur Karsten Zipp,
warum „Geisterspiele“ keine Option sind und was er sich für die Zukunft des Handballs wünscht.
Herr Seipp, wie schätzen Sie die Lage der Vereine in der HBL durch die Corona-Krise ein?
Björn Seipp: „Die Lage ist bei allen Clubs sehr angespannt. Es herrscht eine große Unsicherheit, weil keiner weiß, wie lange die Pandemie noch andauert
und was in den kommenden Monaten passiert? Wir müssen derzeit zweigleisig planen. Zum einen die laufende Saison und dann die kommende Spielzeit. Da
gibt es noch viel mehr Fragen als Antworten. Kurzfristig brauchen wir jetzt Klarheit, ob und wann die Runde abgebrochen wird, damit wir handeln und
Gespräche mit unseren Sponsoren und Fans führen können. Ansonsten haben wir aktuell schon viel veranlasst, wie die Einführung von Kurzarbeit oder Beantragung
von staatlichen Hilfen. Wir haben bereits viele tolle Signale aus unserem Club-Umfeld bekommen, die uns Hoffnung machen, dass wir die aktuelle Saison
bis 30. Juni hoffentlich mit zwei blauen Augen überstehen können. Was aber danach kommt, weiß derzeit noch niemand. Alles hängt davon ab, wie lange
die Welt noch unter dem Corona-Virus leidet.“
Wann glauben Sie, kann wieder gespielt werden bzw. können Geisterspiele oder Medienspiele, wie Sie sie nennen, eine Notfall-Lösung sein?
Björn Seipp: „Viele Virologen sprechen derzeit davon, dass es wahrscheinlich ist, dass in diesem Kalenderjahr keine Veranstaltungen mehr mit Zuschauern
stattfinden, somit auch keine Handballspiele vor größerem Publikum. Deshalb sollten wir unter anderem auch mit diesem, für uns ‚worst case‘-Szenario
planen. Dann gilt es für die HBL möglichst viele Spieltage der kommenden Saison ins Jahr 2021 zu legen, um so viele Medienspiele wie möglich zu verhindern,
denn die können wir uns, anders als der Fußball, einfach nicht leisten. Wir brauchen die Ticket- und Hospitality-Einnahmen. Auf drei bis vier Heimspiele
ohne Zuschauer müssen wir uns in der nächsten Saison dann aber wohl einstellen, damit wir überhaupt einen realistischen Spielplan hinbekommen. Aber
jedes Medienspiel kostet uns dann einen hohen fünfstelligen Betrag. Dagegen machen die TV-Gelder bei uns nur etwa 5 Prozent des Gesamtetats aus, in
der 1. Fußball-Bundesliga aber den größten Teil der Einnahmen. Deshalb drängt die DFL auch darauf noch in dieser Saison vor leeren Rängen, aber vor
Fernsehkameras zu spielen. Für uns Handballer wären Medienspiele in dieser Saison, ungeachtet des falschen Signals, dass sie in der aktuellen gesellschaftlichen
Situation der Bevölkerung senden, unternehmerischer ‚Selbstmord‘ und in der kommenden Spielzeit ein extremer Kraftakt, den wir ohne finanzielle Unterstützung
nicht meistern können. Auch der Profisport braucht hier Unterstützung vom Staat.“
Solidarität ist das Wort der Stunde. Gibt es diese tatsächlich zwischen den Profivereinen bzw. wo liegen die Grenzen der Zusammenarbeit?
Björn Seipp: „Die gibt es – sogar in beeindruckender Art und Weise. Sowohl unter den Geschäftsführern der Handball-Bundesliga tauschen wir uns seit der
notwendigen Absage von Großveranstaltungen annähernd täglich zu verschiedensten Themen aus, als auch in der neu gegründeten Interessengemeinschaft
Teamsport Hessen, der mittlerweile knapp 20 hessische Spitzensportvereine angehören. Derzeit hilft und unterstützt jeder den anderen, vor allem im
Hinblick auf Wissenstransfer, denn wir haben uns aktuell mit Themen zu beschäftigen, von denen wir nie geglaubt hätten, dass wir es jemals müssen.
Diesbezüglich gibt es derzeit keine Grenzen. Die entsprechende Umsetzung muss aber natürlich jeder für sich regeln.“
Welche Fehlentwicklungen sehen Sie in den Profiligen? Muss man die zunehmende Kommerzialisierung mit hohen Spielergehältern, hohen Eintrittspreisen und der Abhängigkeit von Fernsehsendern beklagen oder kann man das in Kauf nehmen?
Björn Seipp: „Ich finde nicht, dass man das generalisieren kann. Ich persönlich sehe es so, dass der Profifußball die Corona-Krise dafür nutzen sollte,
um beispielsweise die Verhältnismäßigkeit von Ablösesummen und Gehältern zu überprüfen. Vielleicht auch unter einem gewissen Zwang, der nach der Corona-Pandemie
entsteht. Dieses Problem der Verhältnismäßigkeit haben die anderen Sportarten in Deutschland meines Erachtens nicht, auch wenn ganz sicher überall
ein Um- und Querdenken stattfinden wird. Es geht in den kommenden Monaten ausnahmslos um den Erhalt der Clubs und Ligen. Da muss jeder zurückstecken.“
Manche Experten glauben, die Corona-Krise wird unsere Gesellschaft verändern. Wird sie auch den Profisport verändern?
Björn Seipp: „Definitiv wird sie das kurz- und mittelfristig in vielerlei Hinsicht tun, auch ökonomisch. Und wenn es den Unternehmen und somit den Sponsoren
nicht gut geht, dann geht es auch dem Profisport schlecht. Wir leben davon, dass sich unsere Partner Sponsoring-Maßnahmen und die damit verbundene
Werbung leisten können. In diesem Bereich wird die Pandemie deutliche Spuren hinterlassen. Die Clubs der Handball-Bundesliga planen derzeit mit Einnahmenausfällen
zwischen 35 und 50 Prozent für die kommende Spielzeit. Und je länger die Krise dauert, desto schlimmer werden die Aussichten. Ich glaube, dass viele
Spieler noch gar nicht realisiert haben, dass sich in der kommenden Saison im Sport einiges verändern wird, weil es gar nicht anders geht.“
Und welche positiven Veränderungen im Profisport würden Sie sich wünschen?
Björn Seipp: „Schön wäre es unter anderem, wenn der intensive Austausch zwischen den Clubs und die gegenseitige Unterstützung in Sachen Knowhow-Transfer
auch nach der Corona-Krise erhalten bliebe. Wünschenswert wäre zudem, wenn das dieser ‚immer schneller, höher und weiter‘-Anspruch generell mal etwas
eingebremst würde und alle Beteiligten nach Corona mehr wertschätzen, was sie hier haben – nämlich größtenteils tolle Rahmenbedingungen, sehr ordentliche
Löhne, ein vorbildliche Gesundheitsversorgung, schöne Stadien und Arenen, treue Sponsoren und grandiose Fans.“
Wagen Sie einen Ausblick: Wie sehen das gesellschaftliche Leben und natürlich auch der Profisport in zwölf Monaten aus?
Björn Seipp: „Puh, schwer zu sagen. Ich hoffe, dass wir dann weltweit das Corona-Virus besiegt haben, nicht um allzu viele COVID-19-Opfer trauen müssen
und gemeinsam anfangen können, den langen Weg zurück zur Normalität zu beschreiten. Dazu würde ich uns wünschen, dass wir die, durch den ‚shot down‘
erlebte Entschleunigung des Alltags als positive Erfahrung mitnehmen und wichtige Dinge des Lebens, wie Gesundheit, Familie, das gesellschaftliche
Miteinander und die Wertschätzung des Arbeitsplatzes wieder mehr in den Mittelpunkt stellen. Ich persönlich werde künftig ganz sicher in vielerlei
Hinsicht mit anderen Augen durchs Leben gehen, zum Beispiel durch den Supermarkt.“
Quelle: Wetzlarer Neue Zeitung/Karsten Zipp