Der R-Wert
Vor Kurzem habe ich festgestellt, dass die Gesetze, welche die Verbreitung eines Virus regeln, die gleichen sind, wie die Gesetze für die Verbreitung eines Startup- Produkts.Mir ist die Ähnlichkeit beim Lesen des Buches Apollo’s Arrow von Nicholas Christakis (1) aufgefallen. In seinem Buch behandelt er die Auswirkungen des Coronavirus auf unsere Lebensweise. Um zu erklären, wie die Ausbreitung des Virus gemessen wird, geht er auf die mit R abgekürzte Reproduktionszahl ein.
R0 (genannt R null) erfasst die Fähigkeit eines Erregers, einen Ausbruch auszulösen. Sie zeigt den Grad der Infektiosität des Erregers in Abwesenheit jeglicher Maßnahmen. Nehmen wir an, dass im Durchschnitt eine Person die Krankheit auf 10 andere überträgt. R wird dann als R10 bezeichnet. Wenn ich mich nicht irre, ist der R-Wert so wichtig für dein Startup, dass er in die Wachstumsanalyse deines Unternehmens einfließen sollte. Was macht R für dein Startup relevant? R kann dir zeigen, ob du an etwas dran bist oder nicht. Im Zusammenhang mit einem Produkt ist R der Grad, in dem die Lösung deines Startups „ansteckend“ ist. Hier bedeutet „ansteckend“, dass Menschen deine Lösung nutzen und mit anderen teilen wollen.
Die Infektiosität hat auch einen Zeitfaktor. Manchmal brauchen Anwender Zeit, bis sie ihr neu entdecktes Produkt mit anderen teilen wollen. Manchmal brauchen Startups Zeit, um herauszufinden, was die Anzahl der Nutzer steigert. Das ist vergleichbar mit der Inkubationszeit des Virus. Die Inkubationszeit ist der Zeitraum von der Übertragung des Erregers bis zum Auftreten der ersten Symptome.Ein Virus inkubiert an bestimmten Orten stärker als an anderen. Während der aktuellen Pandemie weisen einige Regionen auf der Welt einen hohen R-Wert auf, andere hingegen nicht. Für dein Startup bedeutet das, dass du die Zielgruppe finden musst, die am meisten auf dein Produkt anspricht. Du solltest die Nutzer finden, die dein Produkt am meisten wollen. Für sie ist dein Produkt nicht nur ein “nice to have”, sondern auch ein dringend gewolltes Produkt.
Als Gründer kann ich die Bedeutung von R0 nicht genug betonen. Offensichtlich sollen Nutzer gerade am Anfang das Produkt ausreichend verbreiten. Ausreichend bedeutet, dass dein Produkt nicht ausstirbt. Das geschieht, wenn R0 mindestens gleich 1 ist, also der „infektiöse“ Nutzer das Produkt weiterhin verwendet und es einer anderen Person weiterempfiehlt und diese es auch nutzt. Die meisten Produkte zeigen leider schon früh, dass R0 kleiner als 1 ist. Wenn R kleiner als 1 ist, führt das in zu viele Sackgassen.
Wenn dein Produkt von vielen Nutzern abhängt, dann ist R kleiner als 1 ein schlechtes Zeichen. Es könnte bedeuten, dass dein Startup sehr anfällig dafür ist, „default dead“ zu werden, was ein von Paul Graham definierter Begriff ist. (2) Ich war überrascht, dass viele Gründer, mit denen ich während des Verfassens dieses Aufsatzes gesprochen habe, diese Art von Indikatoren nicht als etwas empfahlen, das in den frühen Tagen der Markteinführung eines Produkts in Betracht gezogen werden sollte. Ich denke, dies hat vor allem zwei Gründe.
Der erste Grund ist, dass die meisten erfolgreichen Produkte von Anfang an einen hohen R-Wert hatten. Ein hoher R-Wert ist der Grund, warum das Produkt überhaupt zu einem Startup wurde. Die Nachfrage des Marktes ließ es auf natürliche Weise wachsen. Die Anzahl der Nutzer kann anfangs gering sein, aber die Anziehungskraft des Marktes ist stark vorhanden. Die Nachfrage des Markts kam so natürlich, dass die Gründer den R-Wert ihres Produkts nicht in Frage stellten. Zumindest nicht am Anfang.
Der zweite Grund ist Wunschdenken. GründerInnen wollen offensichtlich nicht, dass ihr Produkt scheitert. Schon gar nicht sofort, kurz nachdem ein Produkt auf den Markt gebracht wurde. Es ist, als hätte man aus eigener Sicht einen sehr guten Roman geschrieben und dann festgestellt, dass niemand ihn lesen will. Diesen Fehler habe ich selbst gemacht. Vor fünfzehn Jahren begann ich, Geschenkkörbe online zu verkaufen. Ich habe sie nicht selbst hergestellt. Es funktionierte ähnlich, wie Lieferando oder Lieferheld heute funktionieren. Meine Plattform sammelte die Bestellungen und leitete sie an ein lokales Geschäft oder eine Person vor Ort weiter, die den Geschenkkorb an den Empfänger vor Ort lieferte. Die durchschnittliche Bruttogewinnmarge war super. Eine Bestellung kostete mich etwa 0,25 €, und ich machte im Durchschnitt 25 € Bruttogewinn pro Korb. Nicht schlecht für ein Nebenprojekt. Die meisten Kunden waren Unternehmen. Viele von ihnen kauften Geschenke in der Hochsaison, etwa zu Weihnachten. Die Bestellungen kamen aber nicht regelmäßig über das Jahr verteilt. R variierte sehr stark. In Spitzenzeiten lag R manchmal über 10, während zu anderen Zeiten R unter 1 lag. Letztendlich bedeutete dies, dass mein Unternehmen von Super-Spreader-Ereignissen abhängig war, bei denen nur sporadische Ereignisse zu Wachstumsschüben führten. Aber um ein nationales Netzwerk von Geschenkkorb-Lieferanten aufzubauen, hätte ich ein stetiges R gebraucht. Ein wenig Mathematik wird dir zeigen warum.
Angenommen, 100 Nutzer kaufen mein Produkt zum ersten Mal. Nur einer empfiehlt mein Produkt weiter, was, sagen wir, zu 300 neuen Bestellungen führt. Die anderen 99 Nutzer empfehlen das Produkt nicht weiter. In diesem Fall beträgt der Durchschnittswert R 3. Es besteht jedoch eine große Varianz. Nehmen wir auf der anderen Seite an, dass von 100 Käufern jeder das Produkt definitiv an drei weitere Nutzer empfiehlt und diese mein Produkt kaufen. R bleibt bei 3, aber die Varianz ist gleich null. Da jeder Käufer in ein Netzwerk von anderen Personen integriert ist und die Anzahl der Personen stark variiert (je nachdem, wie gut der Nutzer vernetzt ist), wird das Produkt mit dem „stabilen“ R von 3 das Spiel gewinnen.
Es gibt noch einen weiteren Grund dafür, dass R viel mehr als eins und stabil sein sollte. Der Grund ist, dass nützliche Produkte, deren Nutzerzahlen stark steigen, angegriffen werden. Dein R sollte daher stark genug sein, um den Angriffen standzuhalten. Die Quelle der Angriffe wird unterschiedlich sein. Mit dem Wachstum des Startups werden auch die Angriffe stärker werden. Am Anfang wirst du es vielleicht mit arroganten Experten auf Twitter zu tun haben oder einfach mit Leuten, die es nicht ertragen können, dich gewinnen zu sehen. Die Leute werden behaupten, dass sie „keine Maske brauchen“, dass dein Produkt ein Witz ist und dass dein Produkt keine Rolle in der Branche spielt. (3)
Als ich mehr über die R-Nummer erfuhr, war ich überrascht, dass die unterschiedliche Verwendung der Nummer GründerInnen helfen kann, die ansteckende Natur ihres Produkts auch im Angriffsfall besser zu verstehen. Es gibt eine Unterscheidung zwischen R0 und Rt, der so genannten effektiven Reproduktionsnummer. T steht für die Zeit (Rt wird manchmal als Re bezeichnet). Rt spiegelt die Ausbreitung des Erregers später in seinem Verlauf wider, wenn wir nicht mehr inaktiv sind und mit der Bekämpfung des Erregers begonnen haben.
Angewandt auf dein Startup sagt dir R0, wie viele Menschen das Produkt ohne Marketing- oder Vertriebsmaßnahmen verwenden und teilen wollen. Rt fügt R0 Hindernisse hinzu: Es ist der Grad, wie sehr eine Gruppe von Anwendern an dem Wachstum eines Startups beteiligt ist, während Experten, Konkurrenten und Kritiker die Lösung angreifen. Nach einer Weile wird eine ganze Gemeinschaft von Pessimisten, Kritikern und Experten mit erfundenen Gründen aufwarten, warum dein Produkt schlecht ist, und manchmal sogar gesetzliche Regelungen in Gang setzen, um die Verbreitung deines Produkts zu verhindern. Ein Beispiel ist AirBnB. Hier gibt es in einigen Städten Bestrebungen die zu verhindern versuchen, dass Haus- oder Wohnungseigentümer ihr Eigentum in „AirBnBs“ umwandeln. In Deutschland haben die Taxiunternehmen Politiker gedrängt, den Betrieb von Uber zu stoppen. Nationale Datenschutzbestimmungen greifen sogar die Nutzung ausländischer Cloud-Dienste wie AWS an und zwingen deutsche “Behörden-Nutzer” deutsche Cloud-Anbieter zu nutzen (4). Wenn dein R stark genug ist, wird dein Produkt trotzdem wachsen. Nicht alle Abwehrmechanismen funktionieren. Die Entwicklung von Rt während einer Pandemie zeigt dies. Schaue dir nur die Schließung der Grenzen während der Pandemie an. Das Schließen von Grenzen während einer Pandemie, wie Christakis in seinem Buch aufzeigt, verzögert R nur sehr kurz. Aufgehalten werden kann der Virus dadurch nicht. (5)
Du kannst dir viel Zeit, Schweiß und Geld sparen, wenn du von Anfang an auf den R-Wert schaust. Teste dein Produkt mit 30 bis 50 Nutzern. Das ausreichen, um eine Normalverteilung für R zu haben. Viel Glück.
(1) Nicholas A. Christakis, Apollo’s Arrow – Der tiefgreifende und anhaltende Einfluss des Coronavirus auf unsere Lebensweise.
(2) Paul Graham, Default Alive or Default Deadt, http://www.paulgraham.com/aord.html.
(3) Ich habe darüber nachgedacht, Beispiele von Twitter-Hass-Tiraden gegen erfolgreiche Startups aufzulisten, aber es gibt so viele und sie erscheinen so oft, dass man einfach nur auf Twitter gehen muss. Verstehe mich nicht falsch, ich benutze Twitter gerne. Zeitdiebe sind auf jeder Plattform zu finden.
(4) Was auch immer ein deutscher “Cloud Anbieter” sein soll.
(5) Christakis erwähnt, dass eine Analyse des Ausbruchs während der H1N1-Pandemie 2009 gezeigt habe, dass die Grenzkontrollen in China die Ausbreitung der Pandemie bestenfalls um weniger als 4 Tage verzögert hätten.