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Startup-Szene Mittelhessen: Ein Ökosystem mit Grund zur Hoffnung und Luft nach oben

Regionalmanagement Mittelhessen GmbH Gepostet von Regionalmanagement Mittelhessen GmbH in Aktuelles aus Mittelhessen 15 min. Lesezeit

Gruppenfoto mit den Teilnehmern des Startup Weekends Mittelhessen im vergangenen Jahr.Mittelhessen
ist eine traditionsreiche Wirtschaftsregion, wie im vergangenen Jahr die Datenbank zur „Route der Industriekultur“ und die „Tage der Industriekultur“ gezeigt haben. Heute ist Mittelhessens Wirtschaft geprägt von vielen mittelständischen „Hidden Champions“ und großen Marken, die mit ihren Produkten
Nischen als Marktführer besetzen und oft auf eine stolze Geschichte zurückblicken. Doch wie ist es um die Zukunft bestellt? Technologie-Startups dominieren
nicht nur in den USA, sondern sind auch immer mehr in Europa Ausweis wirtschaftlicher Potenz einer Region. In Mittelhessen hat die Startup-Szene seit
2016 Fahrt aufgenommen – auch voran getrieben durch eine Gruppe aktiver Startup-Unternehmer, die der Meinung sind, dass Mittelhessen sein Potenzial
als Region für Entrepreneure und junge Unternehmen mit neuen Technologien und Ideen bei weitem noch nicht ausgeschöpft hat.

Wenn es um die Startup-Landschaft in Deutschland geht, ist der Benchmark stets Berlin, das Mekka der Digital Natives und Steve-Jobs-Follower. Wie schneidet
Mittelhessen da im Vergleich ab? In der Hauptstadt sei das „Untereinander kennen gut ausgeprägt“, sagt Alex Trampisch, der mit seinem „Gründer für Gründer“-Stammtisch und dessen weiteren Initiatoren Karan Dehghani (CodeDoor)
, Christoph Seipp (MyKolter) und Tobias Lang (SwissCommerce)
zu eben jenen mittelhessischen Aktiven zählt, die die Szene hier befeuern. „Gießen kommt da erst langsam“, sagt er. „stark personenbezogen“ sei die
Szene und abhängig von „den Akteuren, die sich einbringen“. Doch der Leiter der in Gießen beheimateten deutschen Niederlassung des Schweizer Inkubators und Company Builders SwissCommerce sieht auch den Lichtstreifen am Horizont: „Es sind ganz viele Formate entstanden,
mit denen eine Vernetzung stattfindet.“

Startup-Kultur, die fehlt – nicht nur in Mittelhessen

Neben Alex Trampischs GfG-Stammtisch ist das vor allem der Webmontag Gießen, den Sven Herchenhein (Mitgründer von efec) zusammen mit Dominikus Herzberg, Professor im Fachbereich MNI (Mathematik, Naturwissenschaften, Informatik) an der Technischen Hochschule Mittelhessen, auf die Beine stellt. Und das Startup Weekend Mittelhessen, das aus einer Initiative des Gießener Beraters für New Work und digitale Transformation, Martin Lacroix, hervorgegangen ist. Mit Berlin will Sven
Herchenhein die regionale Szene nicht vergleichen: „Die Startup-Szene in Mittelhessen hat ein kleines Problem, weil es hier noch keine Startup-Kultur
gibt.“ Doch „Startup-Kulturen auszubauen, das haben auch viele andere nicht geschafft, das gelingt auch vielen großen Städten nicht.“ Nicht Köln
und auch nicht Stuttgart. „Soweit ich das sehen kann.“

Für Herchenhein ist genau das für Mittelhessen kein Grund, „den Kopf in den Sand zu stecken.“ Denn: „Da ist etwas, was im Moment nicht da ist, aber wo
sich die Region darauf einlassen kann.“ Martin Lacroix, der zurzeit selber ein Startup-Unternehmen in Mittelhessen gründet und dessen Startup Weekend
bis in die Rheinmain-Region bekannt ist, kennt da ein positives Beispiel – in einer dieser mittelgroßen Städte: An der TU Darmstadt gebe es ein Gründungszentrum mit über 15 Mitarbeitern, „die haben eine andere Gründungs-Affinität dort“; mit dieser
Anzahl an Mitarbeitern lasse sich etwas bewegen. Im Gegensatz dazu findet er die Gründungsberatung an den Unis in Marburg und Gießen „noch ausbaufähig“.
Dabei ist gerade der Vergleich mit Darmstadt wichtig, denn ebenso wie Mittelhessen ist die Stadt nicht weit von Frankfurt entfernt, dem anderen Benchmark,
mit dem sich nicht nur die hiesige Startup-Szene messen muss.

Mittelhessen kann besser sein als Frankfurt

Pitch beim Startup Weekend Mittelhessen.Das Umfeld stimmt in Mittelhessen: Die Region kann
mithalten mit der Metropole, dank guter Verkehrsanbindung, günstiger Mieten und hoher Lebensqualität. Und das gilt noch mehr für Newcomer: „Die Gründe
für Startups, nach Mittelhessen zu kommen, oder hier zu bleiben, gibt es bereits“, sagte Lacroix. Nur besser kommunizieren müsse man sie. Gerade junge
Unternehmen könnten ihren Angestellten oft nur niedrige Löhne zahlen, die nicht für die hohen Mieten in der Metropole reichten. Dann heißt es pendeln.
„Dann kann man überlegen, ob man nicht gleich außerhalb gründet.“ Und oft sind die Mitarbeiter schon vor dem Unternehmen in der Region. „Wir haben
eine gute Basis potenzieller Mitarbeiter in Mittelhessen“, sagt auch Alex Trampisch. Gerade die Hochschulen hier seien einer der Gründe, warum sein
Unternehmen SwissCommerce sich für eine Niederlassung in Gießen und nicht woanders entschieden hat. „Damit sind wir hier gut aufgestellt.“

Martin Lacroix hat noch ein weiteres positives Beispiel parat: Das Talent-Management-Unternehmen Milch & Zucker ist Ende des vergangenen Jahres nach Gießen umgezogen – „ein junges Unternehmen mit einem modernen Thema.“ Die hätten auch nach Frankfurt gehen können,
sagt Lacroix. „Für die Szene ist das ein gutes Zeichen, das man aufgreifen kann.“ Ähnliches gilt für das Fintech-Unternehmen FinTecSystems, das er vor kurzem mit einem Millionen-Investment von sich Reden machte und sein Entwicklungsteam in Linden beheimatet
– nicht zuletzt, um den Mitarbeitern das unangenehme Pendeln nach Frankfurt zu ersparen, wo eigentlich die meisten Kunden säßen, wie Geschäftsführer Dirk Rudolf uns vor kurzem in einem Interview sagte.

Appell für mehr Startup-Bewusstsein

Doch Rudolf, der als Business Angel ebenfalls Teil der Szene in Mittelhessen ist, sagte auch, „man zieht hier zu wenig an einem Strang.“ Und meinte dabei
vor allem den hiesigen Mix aus privaten Initiativen, öffentlichen Institutionen und Hochschulen. Zurück zu Sven Herchenhein und seinem Appell für mehr
Startup-Kultur: Dafür die passenden Rahmenbedingungen zu schaffen, sieht er als Aufgabe der Politik. Als positives Beispiel nennt er das Tech-Quartier
in Frankfurt. „Ich muss ein Feld bereitstellen, sonst kann nichts wachsen.“ Was wachsen könnte, sieht Herchenhein an der WHU – Otto Beisheim School of Management bei Koblenz: Dort haben die Samwer-Bruder studiert, die später mit ihren Startups von
Alando bis Zalando hohe Wellen schlugen, wenn auch in einigen Fällen nicht sehr nachhaltig. Dennoch: In Koblenz schafften es Studenten, mit ihrem
IdeaLab! eine Veranstaltung zu etablieren, die auch schon mal der Vorstand der Telekom besuche.

Die mittelhessischen Veranstaltungen, mit denen die Macher um Trampisch, Herchenhein und Lacroix seit ein paar Jahren die Voraussetzungen für das Erblühen
einer Startup-Kultur schaffen, werden ohne bessere Multiplikation und öffentliche Unterstützung früher oder später sterben, warnt Sven Herchenhein
allerdings. „Es geht um fehlendes Bewusstsein“, sagt er. Er müsse mit seinem nicht-kommerziellen Webmontag „kämpfen, um in die Verteiler zu kommen.“
Hier könne die Region und ihre Institutionen deutlich mehr Aufmerksamkeit schaffen – und zwar aktiv. Und nicht nur mit „wir schreiben Euch auf unsere
Website.“ Seine Befürchtung: Irgendwann gingen diejenigen Privatleute, die sich jetzt noch einbringen, wieder mit den nächsten Projekten ihrer eigenen
Wege. Die Förderung der Startup-Szene „ist eine langfristige Aufgabe, die du nicht an eine Privatperson binden darfst.“

Hoffnungsvolle Ansätze und Wirtschaftsvertreter, die dazulernen

Alex Trampisch sieht die Situation deutlich optimistischer: Aus seiner Sicht „bewegt sich die Szene im Moment sehr stark“. Es geben aktuell einen Prozess,
„Aktionen gut sichtbar zu machen“. Auch der Mix der Angebote gefällt ihm gut – neben den eigentlichen Startup-Formaten gibt es Gründerveranstaltungen
im Technologie- und Innovationszentrum Gießen (TiG) und bei den Industrie- und Handelskammern,
„die haben alle ihre Daseinsberechtigung“. Allerdings wünscht sich Trampisch mehr Übersichtlichkeit. „Da ist noch mehr Raum für Vernetzung“, sagt er.
Auch Martin Lacroix sieht die Situation positiver als Herchenhein: „Die Unterstützung, die ich zum Beispiel durch die IHK Lahn-Dill, die lokalen Wirtschaftsförderer
und andere Akteure erhalte, ist bemerkenswert und findet auf breiter Front statt“, betont er. Das Engagement der IHK Gießen-Friedberg, die die Gründerinitiative
Mittelhessen angestoßen hat, begrüßt er ausdrücklich. „Die lernen gerade richtig dazu“, auch wenn das manchmal noch „mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten“
passiere. Und auch Lacroix fordert, nun die Politik stärker in die Pflicht zu nehmen.

Unabhängig davon schaffen privaten Initiativen weiter Fakten. So wie die Gießener Stadtwerke mit ihrer GründerWerkStadt,
in der Startups wie GraphCMS Raum zum Wachsen bekommen. Oder auch die Beta-Box, ein neuer Co-Working-Space im ehemaligen Gießener Schlachthof, in dem sich Gründer einrichten können, ohne sofort mit
Kosten für ein eigenes Büro belastet zu werden. In Marburg hat der Unternehmer Gunter Schneider mit der Investition in den Lokschuppen aufhorchen lassen
– hier entsteht ein „Open Space“, in dem sich ebenfalls Startups entfalten können. Mit den bekannten Formaten geht es ebenfalls nicht nur weiter, sondern
sie sollen sogar erweitert werden: Alex Trampisch möchte seinen praxisnahen „Gründer für Gründer“-Stammtisch künftig weiter differenzieren und an unterschiedliche
Zielgruppen anpassen. Martin Lacroixs Startup Weekend ist mittlerweile eine feste Größe in der Region und kommt im Mai wieder. Darüber hinaus hat Lacroix
mit seinem Startup Melt Mittelhessen seit dem vergangenen Jahre ein weiteres
Format entwickelt, bei dem erfolgreiche Startup-Gründer im Live-Interview von ihren Erfahrungen berichten und wertvolle Tipps geben.

Sven Herchenhein und Dominikus Herzberg betreiben neben dem Webmontag, der auch schon mal kostenlos Crashkurse in neuen Programmiertechniken anbietet,
auch einen erfolgreichen Podcast mit mittlerweile 13 Folgen. „Und das ist sicherlich
nicht die letzte Idee, die wir zünden werden“, sagt Herchenhein. Neue Ansätze sollen getestet werden, „was funktioniert, machst du weiter, was nicht,
stellst du ein.“ Es entstehen also weiter frische Pflanzen in der mittelhessischen Startup-Landschaft. Nun sind anderen Stellen gefragt, das Feld für
diese Gewächse zu bestellen – damit sie langfristig nicht doch noch eingehen.