Welche Rolle spielen Unterschiede im Gehirn bei der
Art und Weise, wie Menschen die Welt wahrnehmen? Diese innovative Forschungsfrage im Bereich Wahrnehmung und Persönlichkeit hat international überzeugt:
Die Europäische Union fördert die Arbeiten des Gießener Nachwuchswissenschaftlers Dr. Benjamin de Haas in den kommenden fünf Jahren mit 1,5 Millionen
Euro.
Dem Psychologen und Neurowissenschaftler aus der Abteilung des renommierten JLU-Wahrnehmungspsychologen Prof. Dr. Karl Gegenfurtner ist es gelungen, einen
der begehrten Starting Grants des Europäischen Forschungsrats (ERC) an die Justus-Liebig-Universität Gießen (JLU) zu holen. Die von Dr. de Haas untersuchte
Frage, wie und weshalb Menschen sich in ihrer Wahrnehmung unterscheiden, ist ein noch junger Schwerpunkt der Sehforschung. Sehen zwei Menschen das
gleiche, wenn sie dasselbe Bild betrachten? Wie unterscheiden sich die Blickbewegungen? Und woher kommen solche Unterschiede? Können sie Einblick geben,
wie das Gehirn Aufmerksamkeit steuert, oder sogar Diagnosen von Entwicklungsstörungen erleichtern? Diese Fragen sind weitgehend unerforscht und liegen
im Schnittbereich von Allgemeiner, Differentieller und Klinischer Psychologie.
„Ich freue mich sehr über die Förderung der EU und die Gelegenheit, meine Arbeitsgruppe an der JLU anzusiedeln“, sagte Dr. Benjamin de Haas und betonte:
„Hier in Gießen wurde eine – auch international – einmalige Forschungsumgebung geschaffen. Ich bin gespannt darauf, was wir herausfinden werden!‘
Dr. Benjamin de Haas hat an der JLU Psychologie studiert und wurde im Jahr 2009 in eines der angesehensten Promotionsprogramme der Neurowissenschaften
am University College London aufgenommen. Dort forschte er nach seiner Promotion noch mehrere Jahre in der Experimentalpsychologie. Vor zwei Jahren
wechselte er mit Unterstützung eines Just’us-Stipendiums zurück an die JLU, um in Gießen eine Nachwuchsgruppe aufzubauen und ein eigenes Forschungsprogramm
zu entwickeln. Er ist verheiratet und hat drei Kinder.
In seinen Forschungen kombiniert de Haas modernste Methoden der funktionellen Gehirnbildgebung mit der Messung beobachtbaren Verhaltens. Nach seiner Rückkehr
an die JLU hat er seine früheren Arbeiten zu individuellen Unterschieden in der Sehverarbeitung auf die Steuerung des Blickverhaltens ausgeweitet.
Bereits die ersten Ergebnisse dieses innovativen Ansatzes lieferten unerwartete Befunde: Dr. de Haas konnte zeigen, dass individuelle Blickbewegungen
beim Betrachten komplexer Szenen stark variieren. So werden die Augenbewegungen mancher Individuen doppelt so stark von Gesichtern angezogen wie die
anderer Versuchspersonen. (vgl. PM110-19) Die Befunde haben potentielle
Auswirkungen auf Erkenntnisse zum menschlichen Blickverhalten aus Informatik, Psychologie, künstlicher Intelligenz sowie die Seh- und Hirnforschung.
Um zu verstehen, wie Unterschiede im Gehirn den individuellen Blick auf die Welt bedingen, wird Dr. de Haas in seinem fünfjährigen Forschungsprogramm INDIVISUAL
im wesentlichen drei Kernfragen nachgehen: „Ganz besonders interessiert uns, wie gut unsere Laborbefunde dazu geeignet sind, Blickverhalten im echten
Leben vorherzusagen“, erläutert de Haas. „Sind Menschen, deren Augenbewegungen beispielsweise stärker von Text angezogen werden, dadurch auch anfälliger
für textbasierte Ablenkungen im Straßenverkehr?“
Zweitens möchte der Wissenschaftler die neuronalen Grundlagen der Unterschiede im Blickverhalten erforschen: „Wie schafft das Gehirn es, unsere Augen zielgerichtet
auf Gesichter oder Text zu lenken, wenn sie am Rand des Blickfeldes auftauchen?“ Und drittens soll untersucht werden, ob Augenbewegungen sich für die
Diagnostik – zum Beispiel psychischer Leiden – nutzen lassen. „Dazu möchten wir die Augenbewegungen Tausender Freiwilliger messen, um eine Vorstellung
davon zu bekommen, wie breit das Spektrum ‚normaler‘ Augenbewegungen ist“, kündigt der Psychologe an. „Für diesen aufregenden Teil des Projektes werden
wir uns wieder aus dem Labor ‚trauen‘ und unter anderem mit dem Gießener Mathematikum zusammenarbeiten.“
JLU-Präsident Prof. Dr. Joybrato Mukherjee zeigte sich erfreut über diesen erneuten Erfolg der Gießener Wahrnehmungspsychologie: „Insbesondere Dr. de Haas‘
methodische Doppelqualifikation als Psychologe und Neurowissenschaftler hat die Einwerbung der Fördermittel für das ehrgeizige Forschungsvorhaben ermöglicht,
das jetzt an der JLU umgesetzt werden kann“, betonte er.
Mit den ERC Starting Grants fördert die Europäische Union vielversprechende Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler, die bereits eine wissenschaftliche
Erfolgsbilanz (Publikationen, Auszeichnungen etc.) nachweisen können, eine eigene unabhängige Karriere starten und eine eigene Arbeitsgruppe aufbauen
möchten.